Gastvorträge

Aktuelle Informationen zu geplanten Vorträgen werden auch auf unserer Facebook- und unserer Instagram-Seite veröffentlicht. Die Vorträge werden zum Teil als Livestream im offiziellen Youtube-Kanal des FTSK angeboten und sind dort sowie im Youtube-Kanal des Arbeitsbereichs Russisch im Anschluss als Videoaufnahme abrufbar. Informationen zu vergangenen Vorträgen finden sich im Archiv.

Gastvortrag von Alexander Reznik (Universität Bielefeld): Die politischen Sprachen der Bürgerkriege in Russland, 1917-1922 (Vortrag auf Russisch)

Montag, 18.11.2024, 16.50-18.20, Raum N.316 | Понедельник, 18 ноября 2024 г., аудитория N.316

(deutsche Ankündigung s. unten)

Политические языки гражданских войн в России, 1917-1922
В чем актуальность изучения политических языков эпохи революций и гражданских войн на постимперских пространствах России? Драматические события 1917-1922 годов оставили уникальный материал для переосмысления практик политической коммуникации между различными социальными и политическими группами в условиях кризисных трансформаций, роли власти, идеологии и психологии, а также самого содержания этих понятий. Докладчика интересует риторическое фреймирование перехода “малых” гражданских войн в России в широкомасштабную Гражданскую войну весной — летом 1918 г. Продуктивный кросс-дисциплинарный исследовательский подход к языкам политической коммуникации требует погружения в их культурный контекст, понимаемый как сложно устроенный смысловой ландшафт. Способность навигации в этих ландшафтах эпохи была не просто средством политического выживания, но и ключевым фактором формирования новых идеологических структур.
Die politischen Sprachen der Bürgerkriege in Russland, 1917-1922
Welche Bedeutung hat die Erforschung der politischen Sprachen aus der Zeit der Revolutionen und Bürgerkriege in Russlands postimperialen Räumen? Die dramatischen Ereignisse von 1917-1922 haben einzigartige Quellen hinterlassen, die es erlauben, Praktiken der politischen Kommunikation zwischen verschiedenen sozialen und politischen Gruppen unter den Bedingungen von Krisentransformationen sowie die Rolle von Macht, Ideologie und Psychologie sowie den Inhalt dieser Begriffe zu überdenken. Alexander Reznik interessiert sich für die rhetorische Rahmung des Übergangs von mehreren „kleinen“ Bürgerkriegen in Russland zu einem einzigen großen Bürgerkrieg im Frühjahr/Sommer 1918. Ein produktiver disziplinübergreifender Forschungsansatz zu den Sprachen der politischen Kommunikation erfordert ein Eintauchen in ihren kulturellen Kontext, der als komplex konstruierte Bedeutungslandschaft verstanden wird. Die Fähigkeit, sich in diesen Landschaften der Epoche zurechtzufinden, war nicht nur ein Mittel zum politischen Überleben, sondern auch ein Schlüsselfaktor für die Herausbildung neuer ideologischer Strukturen.

Gastvortrag von Aleksei Kamenskikh (Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen / Свободный университет): Historische Argumente im Dienste imperialer Expansion: Voltaire und Katharina II (Vortrag auf Russisch)

Montag, 2.12.2024, 16.50-18.20, Raum N.316 | Понедельник, 2 декабря 2024 г., аудитория N.316

(deutsche Ankündigung s. unten)

Историческая аргументация на службе имперской экспансии: Вольтер и Екатерина II

Вторая половина XVIII столетия, «галантный век», классицизм и европейское Просвещение. Французские философы и европейские монархи имеют обыкновение обмениваться изящными письмами. Материалы одной такой переписки — между «патриархом Просвещения» Вольтером и российской императрицей Екатериной II — позволяют нам, помимо прочего, наблюдать, как, в условиях разворачивающейся войны между Российской и Османской империями (1768 – 1774), признанный французский интеллектуал принимает на себя роль «ястреба войны», убеждая императрицу добиваться полного изгнания турок из Европы, освобождения Греции и превращения Константинополя в третью столицу России. Доклад Алексея Каменских – о том, какую роль в работе этих аргументов играет историческое воображение, и как некоторые из аргументов, разработанных Вольтером в конце XVIII века, продолжают использоваться прокремлёвской пропагандой в текущей войне против Украины.

Historische Argumente im Dienste imperialer Expansion: Voltaire und Katharina II.
In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, dem Zeitalter des Klassizismus und der europäischen Aufklärung, pflegten französische philosophes und europäische Monarchen einen eleganten Briefwechsel. Anhand einer solchen Korrespondenz - zwischen dem „Patriarchen der Aufklärung“ Voltaire und der russischen Kaiserin Katharina II. - lässt sich unter anderem beobachten, wie der gefeierte französische Intellektuelle angesichts des nahenden Kriegs zwischen dem Russischen und dem Osmanischen Reich (1768 - 1774) die Rolle eines „Falken“ übernimmt und die Kaiserin dazu überreden will, die vollständige Vertreibung der Türken aus Europa, die Befreiung Griechenlands und die Umwandlung Konstantinopels in die dritte Hauptstadt Russlands zu betreiben. Aleksei Kamenskikhs Beitrag befasst sich mit der Rolle, die die historische Imagination bei diesen Argumenten spielt, und mit der Frage, wie einige der von Voltaire im späten 18. Jahrhundert entwickelten Argumente von der kremlfreundlichen Propaganda im aktuellen Krieg gegen die Ukraine aufgegriffen werden.

Gastvortrag von Vitaly Chernetsky (University of Kansas / Universität Basel): Mythos Odesa, neu gedacht: ukrainische Schwarzmeer-Narrative, multidirektionale Erinnerung und die Herausforderungen der Dekolonisierung (Vortrag auf Englisch)

Montag, 9.12.2024, 16.50-18.20, Raum N.316 | Monday, 9 December 2024, room N.316

(deutsche Ankündigung s. unten)

Odesa's City Myth Rethought and Reframed: Ukrainian Black Sea Narratives, Multidirectional Memory, and the Challenges of Decolonization

Few cities can rival Odesa in the richness and diversity of its cultural legacy. An oft-mythologized image of the city, derived primarily from early twentieth century Russian-language writings, trickled into a stereotypical version exploited for decades by Soviet and Russian post-Soviet mass culture. However, this outdated cliché narrative obscures many facets of the city’s cultural diversity both past and present. The Black Sea is at the center of both the Soviet-era myth and the enduring stereotypes about the city, on the one hand, and of  revisionist decolonial and multidirectional memory narratives, on the other. For the former, Odesa’s nickname “a pearl by the Black Sea” stands for the colorful smugglers and petty criminals, the fishmongers at the city’s abundant markets, and beachside entertainment. For the latter, Odesa is a fascinating heterotopia that arises at the liminal point linking the Black Sea with the “sea” of the steppe grasslands alongside its northern coast. At the center of my inquiry are the contemporary Odesa-focused multidirectional memory projects pursued, among others, by the writer Ivan Kozlenko, the philosopher and art curator Oksana Dovgopolova, the poet Boris Khersonsky, and the visual artist Oleksandr Roitburd, as well as the new impulse by local intellectuals to decolonize the Odesa narrative since February 2022, in the context of Russia's full-scale invasion of Ukraine.

 

Mythos Odesa, neu gedacht: ukrainische Schwarzmeer-Narrative, multidirektionale Erinnerung und die Herausforderungen der Dekolonisierung

Nur wenige Städte können es in Bezug auf den Reichtum und die Vielfalt ihres kulturellen Erbes mit Odesa aufnehmen. Ein oft mythologisiertes Bild der Stadt, das hauptsächlich aus russischsprachigen Schriften des frühen 20. Jahrhunderts stammt, schlug sich in einer stereotypen Erzählung nieder, die jahrzehntelang von der sowjetischen und postsowjetischen russischen Massenkultur ausgenutzt wurde. Dieses veraltete Klischee verschleiert jedoch viele Facetten der kulturellen Vielfalt der Stadt in Vergangenheit und Gegenwart. Das Schwarze Meer steht im Mittelpunkt sowohl des sowjetischen Mythos und der bis heute bestehenden Stereotypen über die Stadt als auch der revisionistischen dekolonialen und multidirektionalen Erinnerungserzählungen. Für die ersteren steht Odesas Spitzname „Perle am Schwarzen Meer“ für  farbenfrohe Schmuggler und Kleinkriminelle, für die Fischhändler auf den üppigen Märkten der Stadt und die Unterhaltung am Strand. Für die letzteren ist Odesa eine faszinierende Heterotopie, die an der Schwelle zwischen dem Schwarzen Meer und dem „Meer“ der Steppe entlang der Nordküste entsteht. Im Mittelpunkt meiner Untersuchung stehen die zeitgenössischen, auf Odesa fokussierten, multidirektionalen Erinnerungsprojekte, die unter anderem die des Schriftstellers Ivan Koslenko, der Philosophin und Kunstkuratorin Oksana Dovgopolova, des Dichters Boris Chersonskij und des bildenden Künstlers Oleksandr Roitburd, sowie der neue Impuls lokaler Intellektueller, die Odesa-Erzählung seit Februar 2022 im Kontext der groß angelegten Invasion Russlands in der Ukraine zu dekolonisieren.

 

Gastvortrag von Anna Schibarowa (LMU München): Projekt Werke und Tage. Übersetzende erzählen

Montag, 13.1.2025, 16.50-18.20, Raum N.300 (DOL.V) | Понедельник, 13 января 2025 г., аудитория N.300 (DOL.V). Vortrag auf Deutsch, mit simultaner Verdolmetschung ins Russische, angeboten durch Studierende im MA Konferenzdolmetschen

(Русский вариант см. ниже)

Wie kommt man zum Beruf „Literaturübersetzen“? Welche Begegnungen, Institutionen und gesellschaftlichen Praktiken spielen dabei eine Rolle? In Intensivinterviews, die 2021-2022 mit zehn Übersetzenden verschiedener Generationen aus der früheren BRD und DDR durchgeführt wurden, erzählen die Beteiligten über ihr Leben und den Berufsalltag im Osten und Westen. Dabei ergeben sich Einblicke in die Verflechtungsgeschichte des Übersetzens im geteilten Deutschland. Die Reihe wurde im Rahmen der Initiative Neustart Kultur mit Unterstützung durch den Deutschen Übersetzerfonds auf der Webseite TOLEDO realisiert. Das Projekt soll fortgesetzt werden.

Анна Шибарова (Мюнхенский университет им. Людвига и Максимилиана): Проект "Труды и дни. Рассказывают переводчики". Доклад на немецком языке с синхронным переводом на русский

Как становятся литературным переводчиком? Под влиянием каких встреч, институций и социальных практик? В 2021-22 гг. были проведены глубинные интервью с десятью переводчиками из бывших ФРГ и ГДР, принадлежащими к разным поколениям. Участники рассказывают о своей жизни и о трудовых буднях в западной и восточной частях Германии. Это позволяет понять, как переплеталась история перевода в разделенной Германии. Интервью проводились в рамках инициативы "Культура. Перезапуск" при поддержке Германского переводческого фонда и опубликованы на сайте TOLEDO.

 

Gastvortrag von Tatiana Vaizer (Universität Dresden): „Richtig sehen“, „ins rechte Licht rücken“ als Grundlage der frühsowjetischen Öffentlichkeit (Vortrag auf Russisch)

Montag, 27.1.2025, 16.50-18.20, Raum N.316 | Понедельник, 27 января 2025 г., аудитория N.316

(deutsche Ankündigung s. unten)

«Видеть правильно», «показывать в правильном свете» как основания раннесоветской общественности

Советские источники 1930-х годов позволяют выявить, что одним, если не главным, основанием раннесоветской общественности была правильная настройка зрения. Вещи должны были быть увидены и показаны «в правильном свете» (cм., например, стенограмму Первого съезда советских писателей (1934): «Головой, научившейся мыслить диалектически, и глазами, устремленными к строящемуся социализму, наш писатель сумеет понять и увидеть в правильном свете и прошлое, и настоящее, и будущее»; «литературы братских нам республик живут и работают при свете и под благотворным влиянием той же идеи...»; «литература должна правильно осветить...»; «но есть и более тонкая отрава, которая затемняет зрение людей, желающих рассмотреть нашу страну»). Раннесоветский режим видения, видимости предполагал, что глаз человека должен быть настроен и обучен правильно видеть, а сам человек, видящий правильно, должен правильно показывать вещи другим.

В 1930-е годы большевики разрабатывают политический проект инструктивной наглядности или регулятивной видимости. Неслучайно одной из наиболее часто употребимых метафор публичного дискурса в это время становится метафора света, который должен правильно освещать путь вперед и единственно в котором вещи могли быть увидены с правильной точки зрения. Под зрением понимается прежде всего умственное зрение, способность различать и опознавать вещи «правильно». В докладе будут феноменологически типологизированы стратегии политической апроприации большевиками «угла зрения», «перспективы», при которых вещи видятся и показываются в правильном свете. Будет показано, что разметка видимости, инструментальная операционализация функции зрения являлась скальным основанием раннесоветской общественности. И что пространством производства, предьявления и легитимации правильно показываемого и правильно видимого являлась раннесоветская публичность.

 

 

Tatiana Vaizer. „Richtig sehen“, „ins rechte Licht rücken“ als Grundlage der frühsowjetischen Öffentlichkeit

Aus sowjetischen Quellen aus den 1930er Jahren geht hervor, dass eine, wenn nicht die wichtigste Grundlage der frühen sowjetischen Öffentlichkeit darin bestand, Sichtweisen zu justieren. Die Dinge mussten „im richtigen Licht“ gesehen und gezeigt werden (siehe z. B. das Protokoll des Ersten Sowjetischen Schriftstellerkongresses (1934): „Mit einem Kopf, der gelernt hat, dialektisch zu denken, und mit Augen, die auf den im Aufbau befindlichen Sozialismus gerichtet sind, wird unser Schriftsteller in der Lage sein, sowohl die Vergangenheit, die Gegenwart als auch die Zukunft zu verstehen und im richtigen Licht zu sehen“; „die Literaturen unserer Bruderrepubliken leben und arbeiten im Licht und unter dem wohltuenden Einfluss derselben Idee...“; „die Literatur muss richtig erleuchten...“; „aber es gibt auch ein subtileres Gift, das die Sicht der Menschen verdunkelt, die unser Land betrachten wollen“). Das frühe sowjetische Regime des Sehens, der Sichtbarkeit, ging davon aus, dass das menschliche Auge auf das richtige Sehen eingestimmt und trainiert werden muss, und dass derjenige, der richtig sieht, anderen die Dinge richtig zeigen muss.

In den 1930er Jahren entwickelten die Bolschewiki das politische Projekt einer instruktiven oder regulativen Sichtbarkeit. Nicht von ungefähr ist eine der am häufigsten verwendeten Metaphern im öffentlichen Diskurs dieser Zeit die Metapher des Lichts, das den Weg nach vorn richtig erhellen muss und die einzige Möglichkeit bietet, die Dinge aus der richtigen Perspektive zu sehen. Das Sehen wird in erster Linie als eine intellektuelle Aktivität verstanden, als die Fähigkeit, Dinge „richtig“ zu erkennen und wahrzunehmen. Der Beitrag entwickelt eine phänomenologische Typologie der Strategien der Bolschewiki zur politischen Aneignung des „Blickwinkels“, der „Perspektive“, in der die Dinge gesehen und ins rechte Licht gerückt werden. Es wird gezeigt, dass die Markierung der Sichtbarkeit, die instrumentelle Operationalisierung der Funktion des Sehens das Fundament der frühsowjetischen Öffentlichkeit war. Diese war ein Raum der Produktion, Präsentation und Legitimation des richtig Gezeigten und richtig Sichtbaren.